ARCHE im Gespräch mit einem jungen Mann, der als Minderjähriger über mehrere Jahre emotionell und sexuell vergewaltigt worden war
Sexuelle Vergewaltigung Schutzbefohlener – Die Eltern wussten nichts
2015-01-04
Keltern-Weiler. Karl (Name von der Red. geändert), der Mann, der ihn sexuell missbrauchte, würde sagen: „Gell, das gefällt dir doch ! Gell, das ist doch schön !“
Rückblick
Erst als meine Frau mich irgendwann darauf ansprach, wie es beim ersten Mal bei mir war, erzählte ich meine Geschichte. Meine Frau war entsetzt, dass ich sexuell missbraucht worden war. Mir kam das damals nicht so vor. Ich meinte sogar, es hätte mir Spaß gemacht.
Heute, jetzt, wo ich deutlich zu spüren bekomme, dass mein Liebesleben stark eingeschränkt ist, kann ich mir die Geschichte des Missbrauchs genauer anschauen.
„Gell, das gefällt dir doch! Gell, das ist doch schön!“
Ich wusste bislang nicht, dass ich sogar die Gedanken Karls zu meinem Missbrauch übernommen hatte, weil ich ja auch gedacht hatte, es wäre ‚schön’ gewesen. Karl agierte stellvertretend als Vater einem Minderjährigen gegenüber und hatte mir seine Meinung vorgegeben. Das prägte mich.
Wenn ich heute selbst der beschützende Vater dieses damaligen Jugendlichen wäre, der durch das Ehepaar aus Keltern-Weiler sexuell missbraucht worden war, ich hätte Karl zusammengeschlagen – auf offener Straße.
Der Mann schildert
Thomas (Name von der Red. geändert) war es, der mich zu dem Ehepaar führte. Thomas war irgendwann in den kleinen Teilort Weiler gezogen. Er war ein Jahr älter als ich. Wir kannten uns vom Freizeitsport und eines Tages – insgesamt kannten wir uns damals schon sechs bis sieben Jahre lang – lud er mich ein, mit einem Ehepaar abends in den Schwarzwald zum allabendlichen Flutlicht-Skifahren mitzugehen. Meine Eltern willigten ein. Sie kannten ja das Ehepaar aus dem Ort. Es gab keine Gemeinsamkeiten zwischen meinen Eltern und dem Paar. Man grüßte sich, sah sich hier und da bei Festen von Vereinen oder der Evangelischen Kirche. Das Ehepaar war angepasst, ja, sogar anerkannt und überhaupt nicht auffällig.
Es gab also keinen Grund zur Besorgnis
Im Gegenteil, meine Eltern freuten sich mit mir, dass ich auf diese Weise zum Skifahren kommen würde. Sie bezahlten daher meinen Skipass. Wir fuhren zweimal wöchentlich von Dezember bis März an den knapp 40 km entfernten Skiort. Während dieser 10 – 15 Fahrten wurde mein Vertrauen zu dem Ehepaar aufgebaut. Nach der Kontaktanbahnung über Thomas war die Vertrauensherstellung vollzogen. Ich hatte also nichts zu befürchten, fühlte mich sicher und beschützt.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen mir diese Frau als Sexualpartnerin auszusuchen
Thomas und ich, wir saßen hinten. Karl, der Mann, fuhr und Manuela (Name von der Red. geändert), die Frau, saß auf dem Beifahrersitz. Besonders gefallen hat mir die Frau nicht. Ich wäre niemals von mir aus auf die Idee gekommen, diese Frau als Sexualpartnerin für mich auszusuchen. Sie gefiel mir nicht im Geringsten. Sie hatte für mich den Status einer Ersatz-Mutter.
Während der Autofahrten zum Skihang gewöhnte ich mich an das Paar
Im ersten Winter fuhren wir regelmäßig in den Nördlichen Schwarzwald auf eine von meinem Wohnort Weiler aus bekannte Piste. In diesem Winter geschah nichts Außergewöhnliches. So gewöhnte ich mich langsam immer mehr an Thomas und an das Ehepaar. Es war also eine längere Vorbereitungszeit, bis es zum Eigentlichen kam.
Eines Tages lud mich Thomas zu dem Ehepaar in deren Haus ein. Thomas sagte, wir könnten dort einen Film anschauen und fragte, ob ich mitgehen würde. Ich war neugierig und hatte das Gefühl, dass Thomas schon wusste, worum es ginge. Thomas war mein Freund und ich willigte ein.
Das war mein erster Pornofilm – Das Gekicher der Frau habe ich heute noch in den Ohren
Im Wohnzimmer des Einfamilienhauses angekommen, legte Karl einen Pornofilm ein. Diesen schauten wir uns gemeinsam mit dem Ehepaar auf VHS-Kassetten an. Es war der erste Pornofilm meines Lebens. Wie gebannt starrte ich auf die Bilder. Von den anderen bekam ich kaum etwas mit. Nur die Frau hörte ich ab und zu kichern. Von dem gemeinsamen Filmabend erzählte ich niemandem etwas. Dieses Gekichere der Frau habe ich heute noch in den Ohren.
Thomas ging schon längere Zeit in dieses Haus. Vielleicht so ein oder zwei Winter früher hatte er damit angefangen. Er war in diese Art von Sexspielen involviert. Warum er mich mitnahm, weiß ich nicht so recht. Vielleicht wusste er nicht, wie er alleine aus dieser „Nummer“ rauskommen könnte und zog mich deswegen mit hinein.
Nachdem wir diesen Pornofilm angeschaut hatten, fragte mich der Mann völlig unvermittelt, ob ich mit seiner Frau ins Schlafzimmer gehen wollte. Ich war baff und auf diese Frage nicht vorbereitet, dachte noch ‚Was stimmt hier nicht ? Wieso will er das ? Ist er impotent ? Das lässt doch kein normaler Mann zu ! Kriegt er sie nicht befriedigt ?’
Bislang hatte ich noch keinen Geschlechtsverkehr
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Geschlechtsverkehr erlebt. Mir kam das Ganze komisch vor. Thomas war aber schon klar, was jetzt passieren würde und er führte. Er war mein ‚Freund’.
Die Frau stand auf und ging ins Schlafzimmer. Thomas stand ebenfalls auf und ging und ich wie im Tran Thomas hinterher. Was hätte ich denn bei Karl im Wohnzimmer alleine machen sollen ? Das Schlafzimmer war sehr dunkel gehalten. Die Jalousien oder Rollläden waren unten. Die Frau lag nackt auf dem Bett. Ich stand da, wartete und sah, dass Thomas sich entkleidete und an der Frau tätig wurde. Ich war wie hypnotisiert und wie paralysiert, als dass ich hätte gehen können.
Und dann lief es nur noch ab
Ich merkte, wie ich mich auszog und auch aktiv wurde. Irgendwie wie gesteuert. Gesehen habe ich nicht viel. Die Frau habe ich nicht geküsst. Ich habe sie nicht mal richtig gesehen. Ich begann an der Frau sexuelle Handlungen vorzunehmen. Die Frau hatte mit einem Vaginal-Zäpfchen verhütet, das habe ich mitbekommen. Gedanken zur Verhütung hatte ich mir nicht gemacht. Die Situation war für mich fast gespenstisch – wie im Film, weil ich nicht wusste, was hier vor sich ging.
Als ich mit dem Sexualakt fertig war, machte Thomas mit der Frau weiter. Es hatten sich Tücher im Schlafzimmer befunden, mit denn ich mich grob abwischte. Alles war vorbereitet gewesen, wie vorgeplant.
Ich verließ das Schlafzimmer.
Im Wohnzimmer wartete Karl auf mich. Er hatte sich aus der Szene komplett rausgehalten.
Er saß vollkommen ruhig in seinem Sessel und fragte mich, wie es gewesen wäre. Ich wusste immer noch nicht, was da passiert war und wie das passieren konnte.
Ich fühlte mich unwohl, für Karl schien dies das Normalste
Karl war die Ruhe selbst und er gab mir mit seinem Verhalten zu verstehen, dass das, was hier passiert war, das Normalste der ganzen Welt sei.
Ich hatte mich unwohl gefühlt, war aber außerstande zu gehen. Dann kamen die Gedanken, warum ich mir Gedanken machen solle. Er hatte mich schließlich animiert.
Auch die Frau war ziemlich ruhig, als sie zurück kam. Es gab keine Anfragen der Frau mir gegenüber. Ich war wie durch den Wind durch diesen Akt. Meine Rückmeldung an den Mann muss sogar positiv gewesen sein. Denn gleich wurde ein neuer Termin vereinbart.
Als Stricher für die Frau gezogen
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht kapiert, dass ich als Stricher für die Frau des Mannes gezogen worden war. Sie hatten mich missbraucht. Emotionell und sexuell missbraucht.
Gegen 22 Uhr kam ich zuhause an – irritiert, weil ich das, was hier passiert war, noch nicht gerafft hatte. Meine Unterhose warf ich in die Wäsche. Meinen Eltern erzählte ich nichts. Niemandem erzählte ich davon.
Diese Art von Sexualität für die Frau wiederholten Thomas und ich noch zwei bis dreimal. Ich war ja jetzt schon drin in der Sache.
Wie sollte ich aus dieser Nummer jemals wieder herauskommen ?
Außerhalb dieser Vierer-Treffen hatte ich keinen Kontakt zu dem Ehepaar. Es gab keine Telefonate, keine Gespräche auf der Straße. Der Mann machte die Termine immer von einer Verabredung zur anderen aus.
Manchmal machte ich mir Gedanken über den Mann, der eher kleinwüchsig – so um die 1,70 Meter groß war und nicht besonders sportlich. Die Frau war fast gleich groß, hausfraulich-mütterlich von der Art her, wie gesagt nach außen angepasst.
Dieser Missbrauchs-Akt muss geheim gehalten worden sein. Niemals wurde ich von außen angefragt und es gab auch keine Hinweise.
Stattgefunden haben diese Missbrauchs-Szenen bis ich 18 Jahre alt war. Zuerst ging ich mit Thomas, später dann auch überwiegend alleine in das Einfamilienhaus. Mein Zweirad stellte ich im Hof ab. Ich war ja jetzt daran gewöhnt.
Karl war, wie schon gesagt, nie dabei. Er war aber immer im Haus. Aufnahmen wurden meines Wissens nicht gemacht. Im Schlafzimmer war es einfach zu dunkel. Karl war, soweit ich weiß, immer im Wohnzimmer. Er saß in seinem Sessel.
Erst als ich jemanden kennenlernte, dem ich vertraute …
Mit 18 Jahren lernte ich ein junges Mädchen kennen. Ich hörte dann auf in das Haus zu gehen. Ich schaffte es davon weg zu kommen. Und das Erleben in diesem Haus schien wie abgeschnitten. Zuhause hatte ich mich dort nie gefühlt.
Karl meint bestimmt, er habe mir unterm Strich etwas Gutes getan.
Heute würde ich mir wünschen, dass dieser Sexuelle Missbrauch von mir als Minderjähriger nie stattgefunden hätte. Ich hätte mir für mich ein Erwachen in meine Sexualität auf natürliche Weise gewünscht.
Auf die Frage der ARCHE, was denn der Vater des Minderjährigen getan hätte, wenn er von seinem Missbrauch gewusst hätte.
‚Du Drecksau, net mit meim Bu ! Ich dreh’ dir dä Hals rum !’
Darauf der Mann spontan: „Wenn mein Vater das gewusst hätte, hätte er Karl auf offener Straße umgehauen. Und hätte geschrien: ‚Du Drecksau, net mit meim Bu ! Ich dreh’ dir dä Hals rum !’ Er hätte meinen Missbrauch nicht zugelassen.
Ich hätte striktes Hausverbot erhalten. Dort hätte ich nie mehr hingehen gedurft.
Meine Mutter hätte meinem Vater zugestimmt. Sie hätte ihn voll und ganz unterstützt. Sie hätte geweint, weil das Schmerzen gewesen wären, die man ihr zugefügt hätte.“
*
Aber der Vater war damals nicht vorhanden, genauso wenig wie die Mutter. Beide waren im Glauben, dass der Junge gut aufgehoben war.
*
Die Geschichte des sexuell missbraucht worden Seins nahm den Mann bis heute gefangen.
„Karl begegne ich immer mal wieder in Weiler. Mir ist nicht wohl, wenn ich ihn sehe.
Karl hat ein Kind, eine Tochter soweit ich weiß.“
Seelische Folgen eines Missbrauchs schutzbefohlener Minderjähriger aus der Unfähigkeit des Missbrauchten heraus sich von der Tat distanzieren zu können
„Und obwohl 10 Jahre zwischen der Geburt des Kindes und meines Missbrauchs liegen, habe ich mir ernsthaft schon die Frage gestellt, ob ich der Vater dieses Kindes wäre.“
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Der als Kind missbrauchte Mann ist in der Zwischenzeit selbst Vater und er will eines verhindern: „Meinem Kind soll so etwas nicht passieren !“
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Strafgesetzbuch
§ 182 Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen
(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage
1. sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2. diese dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.