Voller Sehnsüchte und Erwartungen – ohne Halt
Interview mit Peter Merle – ein 35jähriger junger Mann aus Deutschland
2014-10-22
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Pforzheim/Keltern-Weiler. Peter Merle (Name geändert) ist ein radikaler Denker. Ein Umdreher und Abgrenzer. Er hört lange zu, bevor er seine Stimme erhebt. Aber wenn er sie erhebt, dann kann es scheppern. Scheppern in der Ankündigung seiner Absichten, seiner Handlungen und auch in der Unverblümtheit seiner Wortwahl. „Der Spinner ! Das Arschloch !“, und ähnliche Ausdrücke fallen, wenn jemand seinen Erwartungen nicht entspricht. Und seine Erwartungen an die Menschen sind hoch.
Sind sie wirklich hoch oder aus seinem Blickwinkel gerecht ? Gerecht im Sinne von zu recht erhoben, denn das, was er denkt, hat Substanz. Er verlangt mitunter viel von seinen Mitmenschen. Sein IQ ist bei 140. Da kann nicht jeder mit. So ist es leicht möglich, dass einer nach dem anderen aus seiner Freundesliste fällt. Und am Ende ? Einsamkeit, Alleinsein. Ist es das, was er wirklich will ?
ARCHE im Gespräch mit Peter Merle
Peter Merle, ich darf Sie duzen ?
Aber gerne doch.
Wie geht’s dir jetzt gerade im Moment ?
Peter zögert. Dann: gut, gut.
Wirklich gut ?
Nö, ich habe mich dazu genötigt gefühlt, eine kurze Antwort zu geben, was aber an meiner Einbildung liegen kann.
Und wie geht es dir ohne Nötigung ?
Ich weiß, dass ich nicht genötigt werde, deswegen habe ich bewusst Einbildung gesagt. Ah … also ich habe ehrlich gesagt mit dieser Frage nicht gleich zu Anfang gerechnet und ich muss zu der ehrlichen Beantwortung dieser Frage zuerst die Verbindung zu mir selbst herstellen. Dieser Nikotinentzug macht mich ganz konfus und gereizt.
Warum rauchst du oder hast du geraucht ?
Weil sich irgendwann aus einer Gewohnheit eine psychische Abhängigkeit nach Nikotin entwickelt hat.
Was hast du geraucht ?
Tabak u.a. in Kombination mit Hanf oder dem Produkt von dem Harz, was als Haschisch bekannt ist.
D.h. Dir ging es besser, als du diese Stoffe zu dir genommen hast ?
Ja, sonst hätte ich sie nicht genommen.
Was haben diese Stoffe bei dir bewirkt ?
Eine gewisse Versöhnung mit mir selber, sie haben eine friedens-schaffende Wirkung gehabt, oftmals haben sie mir solche kreative, inspirative Schübe gegeben, dass ich oftmals eine ganze Nacht durchgemacht habe, um das umzusetzen, was mir da eingefallen ist. Den positiven Sinn kann ich aus den Konsequenzen des Nichtschlafens nicht ziehen. Es war zwar in dem Moment schön, als ich meine Kreativität ausgelebt habe. Aber definitiv haben mich diese Schübe um den Schlaf gebracht. Ob positiv oder negativ, das liegt im Auge des Betrachters.
Und wie geht es dir jetzt ?
Ich fühle mich sattgegessen und wohl und kann dankenswerterweise auf einen weiteren Tag in meinem Leben zurückblicken, wo ich einfach froh bin, dass ich heute aufwachen durfte.
Du bist nicht jeden Tag froh, dass du aufwachen darfst ?
Nein, ich bin nicht jeden Tag froh.
Wie oft von sieben Tagen bist du froh ?
Im Schnitt ungefähr die Hälfte.
Würdest du sagen, du bist glücklich ?
Nö.
Unglücklich ?
Ja.
Was macht das Unglück in deinem Leben ?
95% dessen, was ich mit den Leuten reden will, muss ich mit mir selber reden. Ich denke über Sachen nach und ein kleiner Teil der angedachten Themen, Themenstränge wird Realität, wenn ich jemanden mal am Telefon erreiche.
80 – 90 % landen davon auf einem Haufen, der von Tag zu Tag größer wird und der, was ich dankenswerterweise erwähnen muss, durch Vergessen wieder kleiner wird.
Das heißt, es gibt keinen Empfänger, der auf deinen Sender ausgerichtet ist ?
Es gibt kaum einen Gesprächspartner, Gesprächspartnerin, wo nicht ein verwanzter, verschimmelter und fader abgestandener widerlicher Nachgeschmack zurückbleibt.
Was passiert während dieser Gespräche ?
Ich stelle oft fest, man hört mir nicht zu. Ich spreche weiter und zwei Sätze später merke ich, dass man mir erneut nicht zuhört, obwohl ich es angemahnt hatte.
Kann es sein, dass die Menschen nicht mitkommen ?
Nein, es hat damit nichts zu tun. Es handelt sich um Menschen, die auch am schnellen Straßenverkehr teilnehmen. Es ist Zeitstyropor, substanzloses Gewäsch, Sprachmissbrauch. Ich frage mich nach solch einem Gespräch, was ich mit meiner Zeit hätte sinnvoller anfangen können.
Wo kommst du her, Peter ?
Wie meinst du das ?
Wo sind deine Wurzeln ?
Meine Wurzeln ? … Peter schweigt. … hmm, er geht in sich. Hier in der Gegend, ohne das weiter spezifizieren zu wollen.
Hast du eine Mutter, einen Vater ?
Ja, biologisch gesehen.
Und unbiologisch ?
Unbiologisch versuche ich seit einiger Zeit auf diese Frage die Antwort NEIN zu geben, ohne Ansehen der fragenden Person.
D.h. Dein Geist ist auf dieser Erde nicht verwurzelt ?
Das ist damit nicht gesagt. Ich weiß nicht, ob es einen solchen Zusammenhang gibt.
Könnte es diesen Zusammenhang geben ?
Die Wurzelfrage aus dem geistigen Blickwinkel zu sehen muss ich zugeben, hat mich ziemlich kalt erwischt, da ich die vorherige Frage im rein physikalischen Zusammenhang verstanden hatte.
Diese Frage wo komm ich her … Pause … Ich weiß, dass es eine wichtige Frage ist …. für mich selbst…. wo meine Wurzeln liegen …. hmmmmmmmm … hmmmmmmm …
Pause
Zum ersten Mal höre ich Peter nachdenken.
Geistige Wurzeln. Ich habe ziemlich viel von Voltaire gelesen. Das sagte mir, dass er zu seiner Zeit genau gewusst hatte, wovon er redete und wie es im Großen und Ganzen so aussieht.
Voltaire. Geistige Wurzeln … Pause …
Peter ist in sich … Ruhe …
Voltaire, freilich aber auch Hermann Hesse, und last but not least Jesus Christus.
Bist du ein Bruder derer ?
Ja, so wie wir alle Brüder und Schwestern sind.
Bist du Bruder deiner Mutter und deines Vaters ?
Habe ich eine andere Wahl ?
Wenn du eine hättest ?
Peter startet einen Gegenfrage: Welche Türen öffnen uns solche Gedankenspiele ?
Welche Türen ?
Es sind letztendlich auch die Türen der Versöhnung.
Müsstest du dich mit deiner Mutter und deinem Vater versöhnen ?
Peter denkt nach, seine Mundwinkel zucken.
Nicht unbedingt, nein, überhaupt nicht. Es mag auf lange Sicht wünschenswert sein, aber wer sagt denn, dass ich dafür verantwortlich bin, dass das eben noch nicht der Fall ist bzw. dass ich es nicht mit einem Fingerschnippen erreichen kann. Überhaupt ist es Wunschdenken davon zu sprechen, da die Kommunikation noch nicht mal steht.
Es gibt da ein englisches Lied ‚With my head up in the clouds‘ (aus: Slade – Far Far Away… denn wenn ich über Versöhnung rede mit meinen Eltern, dann rede ich von einem N’tenschritt mit N >1. Größer
Würdest du denn gerne schnippen können ?
Natürlich, wer würde es nicht ?
Also dann stellen wir uns zwei Dinge vor:
Du begegnest deiner Mutter im ungeschnippten Zustand. Was würdest du ihr an den Kopf werfen ?
Nichts. Und wenn du dahinter schaust, was würdest du ihr dann an den Kopf werfen ?
Es ist bei der Begegnung mit meiner Mutter nicht erforderlich, dass ich ihr etwas an den Kopf werfe. Ich muss nur zwei, drei Sätze warten, dann tut sie das mit mir.
Das heißt, du baust einen Abwehrschirm auf ?
Unter anderem. Ich muss dazu sagen, dass ich nicht alle solche Treffen mit der gleichen Strategie oder mit dem gleichen Plan herangehe. Manches Mal kann ich es einfach geschehen lassen.
Was ist die tiefste Wunde, die dir deine Mutter geschlagen hat ?
Da gibt es mehrere, über die genaue Rangfolge habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.
Was würdest du ihr, wenn du könntest, an den Kopf schlagen ?
Meine Hand.
Es freut sie ja immer, dass sie etwas sieht, dass ich etwas anwende, was ich von ihr gelernt habe.
Eine schöne schallende Backenwatsch müsste sie erst noch mit Stolz auf mich erfüllen.
Wie oft bist du geschlagen worden ?
Insgesamt 20 – 30 Mal.
Wie hat das ausgesehen ?
Erst habe ich eine geklatscht bekommen, habe dann geweint, dann habe ich – oftmals hinter verschlossener Tür nochmals eine gekriegt, damit der Filius im christlichen Hause seine Klappe hält.
Es gibt da so ein Lied: Sonntags gehe ich in die Kirche, montags schlage ich meine Frau….
Das spiegelt es so wieder …. Nachhilfestunde in Dialektik.
Wie hoch ist das Maß deiner Verletztheit ?
Hoch.
Wenn 10 das Maximum ist ?
11.
Wie kommst du von der 11 runter ?
Man sagt, Zeit heilt alle Wunden. Zeit und Ortswechsel. Ein Ortswechsel an einen Ort, den mindestens ein Elternteil nicht erfahren darf. Es sei denn zu einer Zeit, die ich bestimme.
Peters Eltern hatten sich getrennt.
Heute Nachmittag erzählte er mir, er mache sich ständig Gedanken darüber, ob er schuld sei und wenn ja, an welcher Stelle. Er habe tatsächlich einmal eine Nachricht nicht ordungsgemäß und unverzüglich weitergereicht. Er glaubt diese seine Tat hätte zur Trennung seiner Eltern geführt. Bis heute macht er sich Vorwürfe.
Dabei sei es doch so einfach, meinte er neulich, sie müsste – gemeint ist die Mutter – doch nur sagen, sie müsse sich entschuldigen.
Ein Aufeinanderzugehen von beiden Seiten sei erforderlich.
Wenn es so rüberkommt, wenn ich eine einseitige Schuldzuweisung vornähme, dann baue ich mir neue Mauern auf, das ist auch nicht gut.
Um den Satz nun richtig zu formulieren: Es könnte so einfach sein, dass sie beide wieder miteinander zusammenleben, indem sie einfach das Kriegsbeil und all das, was es für schreckliche Konsequenzen für alle hat, zu begraben. Ein Kriegsbeil auszupacken ist nicht schwer, es zu begraben dagegen sehr. Vielleicht würde es schon helfen, wenn sie sagen würden: Hey, ich habe auch meine Fehler, ich bin auch nicht perfekt. Es müsste gewährleistet werden, dass der eine dem anderen nicht den Kopf runterreißt. Es müsste gewährleistet sein, dass der eine mit dem anderen nicht hart ins Gericht gegehen würde.
Was hätte es dir gebracht, wenn deine Eltern zusammengeblieben wären ?
Es hätte mir ein Elternhaus gegeben.
Wenn ich jetzt an die damalige Situation zurückdenke, wie hätte das laufen müssen, dass es überhaupt noch gegangen wäre ? Ich muss dazusagen, dass meine Mutter schon zwei oder drei Jahre zuvor die Scheidung wollte
…
Peter erzählte mir von seinen Selbstmordversuchen.
Irgendwann zog sich Peter wieder zurück. Wollte zu einem Bekannten ziehen. Verwarf dieses Vorhaben.
Irgendwann rief ich ihn wieder an. Irgendetwas ‚plagte‘ mich. Da erzählte er mir, ich könne zur Beerdigung seines Vaters kommen.
Ich ging hin. Peter sah gut aus wie noch nie. Sehr gefestigt. Seinen Blick, als er mich sichtete, werde ich nie vergessen.
Dann musste Peter aus seiner Wohnung raus.
Am Tag des Umzuges hatte ARCHE zum letzen Mal Kontakt. Zwei ARCHIANER waren bereit mit ihm umzuziehen. Er meldete sich nicht mehr.
Er meldet sich nie mehr.
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Peter Merle am 2014-09-03:
„Nicht jedes Problem überlebt die Änderung der eigenen Sichtweise !“