VIERTER ABSCHNITT
RECHTSSACHE SIOUD/Deutschland
(Klage Nr. 48698/21)
URTEIL
STRASBOURG
24. Oktober 2023
Dieses Urteil ist rechtskräftig, kann aber einer redaktionellen Überarbeitung unterzogen werden.
In der Rechtssache Sioud gegen Deutschland,
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Vierte Sektion) in seiner Eigenschaft als Ausschuss, bestehend aus:
Faris Vehabović, Präsident,
Anja Seibert-Fohr,
Sebastian Răduleţu, Richter,
und Ilse Freiwirth, stellvertretende Kanzlerin der Sektion,
gestützt auf:
die Beschwerde (Nr. 48698/21) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die gemäß Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention) am 28. September 2021 von einem deutschen Staatsangehörigen, Herrn Akram Sioud, geboren 1983 und wohnhaft in Hanau (im Folgenden: Beschwerdeführer), der von Herrn G. Rixe, einem in Bielefeld praktizierenden Rechtsanwalt, vertreten wurde, beim Gerichtshof eingereicht wurde;
die Entscheidung, der deutschen Regierung (im folgenden: Regierung), vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens, vom Bundesministerium der Justiz;
die Stellungnahmen der Parteien;
die Entscheidung, den Einspruch der Regierung gegen die Prüfung des Antrags durch einen Ausschuss zurückzuweisen;
nach Beratung in nichtöffentlicher Sitzung am 3. Oktober 2023,
erlässt das folgende Urteil, das an diesem Tag erlassen wurde:
GEGENSTAND DER RECHTSSACHE
1. Der Antrag betrifft ein Verfahren über den Umgang zwischen dem Antragsteller und seinem Kind, L., einem am 10. Dezember 2008 geborenen Mädchen.
2. Der Antragsteller und L.s Mutter ließen sich 2016 scheiden. Seitdem lebt L. bei ihrer Mutter. Die Eltern streiten sich seit Jahren über den Umgang des Antragstellers mit L.; mehrere einstweilige Anordnungen scheiterten schließlich.
3. Am 26. Februar 2019 ordnete das Familiengericht den Umgang mit der Antragstellerin an jedem zweiten Samstag und nach zehn Umgangssitzungen von Samstag bis Sonntag sowie in den Ferien an. Für die Durchführung der Umgänge wurde vorläufig ein Umgangspfleger bestellt. Das Familiengericht berücksichtigte die letzte mündliche Anhörung des Kindes am 26. Februar 2019, bei der L. – wie bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit – erklärt hatte, dass sie den Antragsteller nicht sehen wolle. Es stützte seine Entscheidung auf die Stellungnahmen des für L. bestellten Verfahrenspflegers, des Jugendamtes und insbesondere des Deutschen Kinderschutzbundes, der in der Vergangenheit mehrere Umgangstreffen zwischen dem Antragsteller und L. begleitet hatte; diese Fachleute sprachen sich einhellig für einen unbegleiteten Umgang aus. Das Familiengericht stellte fest, dass eine schrittweise Ausweitung der Treffen es L. ermöglichen würde, sich ihrem Vater schrittweise wieder zu öffnen. Außerdem hielt es die Bestellung des Vormunds für erforderlich, da die Mutter von L. nicht in der Lage gewesen sei, das Kind positiv auf den Umgang mit dem Antragsteller vorzubereiten.
4. Die Mutter und anschließend der Antragsteller legten Widerspruch ein. Während des Beschwerdeverfahrens reichten das Jugendamt, der Verfahrenspfleger und der Vormund neue Stellungnahmen ein, die alle die Einholung eines psychologischen Gutachtens empfahlen. Am 4. Juli 2019 hörte das Berufungsgericht die Eltern, den Vertreter des Jugendamtes und den Vormund an.
5. Am 31. Oktober 2019 setzte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main den Umgang mit dem Antragsteller bis zum 30. Juni 2020 aus.
6.Das Berufungsgericht stützte seine Entscheidung auf den im erstinstanzlichen Verfahren geäußerten Willen von L., ihren Vater nicht zu sehen, und verwies auf einen Loyalitätskonflikt, unter dem L. leide und dem sie vorübergehend entzogen werden solle.Das Gericht verwies auch kurz auf neue Stellungnahmen des Vormunds, der berichtet hatte, dass L. jeden Kontakt mit dem Antragsteller strikt ablehnte und dass die Durchführung des Kontakts unter den gegebenen Umständen nach Ansicht des Vormunds unmöglich war.Das Berufungsgericht nahm auch zur Kenntnis, dass der Vormund erwähnt hatte, dass L. unmittelbar den Meinungen ihrer Mutter ausgesetzt sei, und fügte hinzu, dass zugegeben werden müsse, dass die Kindesmutter es nicht nur versäumt habe, die Umgangstreffen zu fördern, sondern vielmehr, zumindest nonverbal, die Umgangsverweigerung von L. unterstützt habe.Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass der Wille von L. ungeachtet des möglichen Einflusses ihrer Mutter autonom gebildet wurde und dass die Mutter des Kindes an ihre eigenen Erklärungen, dass sie den Umgang fördern würde, gebunden war.
7. Schließlich hielt es das Berufungsgericht für unnötig, einige der vor dem Familiengericht vorgenommenen Verfahrenshandlungen zu wiederholen, wobei es kurz erläuterte, dass es unwahrscheinlich sei, dass neue Elemente zutage treten würden.
8. Die Rüge des Beschwerdeführers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs blieb ebenso erfolglos wie seine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (1 BvR 373/20).
9.Unter Berufung auf die Artikel 8 und 6 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts eine Verletzung seines Rechts auf Achtung seines Privat- und Familienlebens und auf rechtliches Gehör darstelle.
WÜRDIGUNG DURCH DAS GERICHT
ANGEBLICHE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
10. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 § 3 (a) der Konvention oder aus anderen Gründen unzulässig ist.Sie ist daher für zulässig zu erklären.
11. Die allgemeinen Grundsätze für Entscheidungen über das elterliche Umgangsrecht und den entsprechenden Entscheidungsprozess wurden in Elsholz gegen Deutschland [GC], Nr. 25735/94, §§ 43-53, ECHR 2000-VIII zusammengefasst (siehe auch Sahin gegen Deutschland [GC], Nr. 30943/96, §§ 64-78, ECHR 2003-VIII; Sommerfeld v. Germany [GC], no. 31871/96, §§ 68-75, ECHR 2003-VIII (Auszüge); und Anayo v. Germany, no. 20578/07, §§ 65-66, 21. Dezember 2010).
12. Es war zwischen den Parteien unstreitig, dass die Aussetzung des Umgangs als solche einen Eingriff in das Recht der Klägerin auf Privat- und Familienleben darstellte. Der Eingriff habe eine Grundlage im nationalen Recht (§ 1684 § 4 Satz 2 BGB) und verfolge das legitime Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer.
13. Bei der Prüfung der Frage, ob die Aussetzung des Umgangs des Antragstellers mit seinem Kind für etwa acht Monate „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war und somit die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten Gründe im Lichte des gesamten Falles relevant und ausreichend im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Konvention waren, stellt das Gericht fest, dass sich das Berufungsgericht auf den ausdrücklichen und ständigen Willen von L. gestützt und festgestellt hat, dass die Anordnung des Umgangs gegen ihren Willen L. wahrscheinlich gefährden würde.Aus den Akten geht hervor, dass sich zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts mehrere andere Maßnahmen wie begleiteter Umgang als erfolglos erwiesen hatten und der Vormund die Auffassung vertreten hatte, dass die Durchführung des Umgangs unter den gegebenen Umständen unmöglich sei.
14. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Berufungsgericht die Eltern von L., einen Vertreter des Jugendamtes und den Vormund angehört hatte, aber darauf verzichtete, die damals zehnjährige L. erneut anzuhören, obwohl das Gericht seine Entscheidung maßgeblich auf die Erklärung von L. stützte, dass sie ihren Vater nicht sehen wolle.Auch wenn die Anhörung eines Kindes nicht unter allen Umständen erforderlich ist (Sahin, a. a. O., Rdnr. 73) und die letzte Anhörung von L. zum Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts nur etwa acht Monate zurücklag, kann nach Ansicht des Gerichts nicht übersehen werden, dass das Berufungsgericht aus der Anhörung andere Schlussfolgerungen gezogen hat als das erstinstanzliche Gericht, das L. angehört hatte. Genauer gesagt hob es die erstinstanzliche Entscheidung auf und setzte den Umgang auf der Grundlage der schriftlichen Niederschrift eben dieser Anhörung durch das erstinstanzliche Gericht aus, die dieses nicht überzeugt hatte, sondern es dazu veranlasste, den unbegleiteten Umgang im Licht der Beweise des gesamten Falles anzuordnen.
15. Außerdem hatten sowohl das Familiengericht als auch das Berufungsgericht Bedenken geäußert, dass die Mutter des Kindes die Umgangsverweigerung von L. beeinflusst und gefördert haben könnte.Ungeachtet dieser Bedenken hat das Berufungsgericht in seiner Entscheidung diese Bedenken nicht hinreichend ausgeräumt und ist nicht näher darauf eingegangen, dass alle weiteren ihm vorliegenden Stellungnahmen, nicht nur des Jugendamtes und des Verfahrenspflegers, sondern auch des Umgangspflegers, die Einholung eines psychologischen Gutachtens empfohlen hatten.Darüber hinaus bestätigt nichts in der Entscheidung des Berufungsgerichts die Behauptung der Regierung, das Berufungsgericht habe von einer erneuten Anhörung des Kindes und der Anordnung eines Gutachtens abgesehen, um L. zusätzlichen psychischen Stress zu ersparen (a contrario Sahin, a.a.O., § 74). Unter diesen Umständen und in Anbetracht der Bedeutung des Gegenstands – nämlich der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Kind – ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung auf der Grundlage hinreichend gesicherter Tatsachen getroffen hat, indem es sich auf das schriftliche Protokoll über die Anhörung des Kindes gestützt hat, ohne dass ihm entweder ein Sachverständigengutachten eines Psychologen oder ein persönlicher mündlicher Eindruck von L. zur Verfügung gestanden hätte. um die Aussagen des Kindes und die Möglichkeiten der Wiederherstellung des Umgangs zu bewerten (vgl. Elsholz, a.a.O., §§ 52-53; und demgegenüber Sommerfeld, a.a.O., § 74).
16. Der Gerichtshof hat immer wieder betont, dass die nationalen Behörden besser in der Lage sind, die ihnen vorgelegten Beweise zu bewerten (siehe u. a. Winterwerp gegen die Niederlande, 24. Oktober 1979, § 40, Serie A Nr. 33), und es ist daher nicht Sache des internationalen Richters, zu beurteilen, ob die Aussetzung der Kontakte des Beschwerdeführers zu seinem Kind tatsächlich gerechtfertigt war.
17. In einer Situation, in der das Familiengericht Bedenken hinsichtlich des Einflusses der Mutter auf das Kind geäußert und den Umgang mit dem Antragsteller trotz der Weigerung des Kindes, seinen Vater zu sehen, angeordnet hatte, zeigt jedoch das Versäumnis des Berufungsgerichts, das Kind vor der Aussetzung der Kontakte des Antragstellers erneut anzuhören oder ein Sachverständigengutachten anzuordnen, was die Fachleute empfohlen hatten, nach Ansicht des Gerichtshofs, dass der verfahrensrechtliche Ansatz des Berufungsgerichts ihm keine ausreichende Tatsachengrundlage für seine Entscheidung lieferte.Daraus folgt, daß die Verfahrensvorschriften des Artikels 8 der Konvention nicht beachtet wurden.
18. Es liegt also eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vor.
SONSTIGE BESCHWERDEN
19. Die Beschwerdeführerin beschwerte sich auch nach Artikel 6 der Konvention. In Anbetracht des Sachverhalts, des Vorbringens der Parteien und seiner obigen Feststellungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er die wichtigsten Rechtsfragen, die der Fall aufwirft, behandelt hat und dass die übrigen Rügen nicht geprüft werden müssen (siehe Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu/Rumänien [GC], Nr. 47848/08, § 156, ECHR 2014).
ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DES ÜBEREINKOMMENS
20. Der Antragsteller forderte 8.000 Euro (EUR) für den immateriellen Schaden und 9.741,67 Euro für die vor den inländischen Gerichten und vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen.
21. Die Regierung äußerte sich nicht zu den Anträgen des Beschwerdeführers.