„Denk ich an die Lage der Männer in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“

Mann und Frau

ANGSTBEISSER UND ANDERE
von Walter Hollstein

2014-10-12

Ende September hat an der Heinrich-Heine-Universität zu Düsseldorf der 3. Wissenschaftliche Männerkongress statt gefunden. Das Thema: „Angstbeisser, Trauerkloss, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen“. Das Fazit der vielen Vorträge internationaler Experten fiel einigermassen dramatisch aus: Männern und Buben geht es schlecht und – um genau zu sein: immer schlechter. Das männliche Geschlecht schwächelt; es ist kränker als das weibliche, stirbt früher, bringt sich häufiger um, leidet mehr unter Arbeitsstress, ist suchtanfälliger und bei alledem medizinisch schlechter versorgt. Das Ungemach beginnt inzwischen früh: Buben werden heute in einer gesellschaftlichen Konstellation groß, die ihnen keine authentische Verhaltenssicherheit mehr vermittelt. Ihre Ratlosigkeit ist inzwischen zur offenkundigen Krise mutiert; Buben haben immer mehr Entwicklungsstörungen; ihre Suizidrate wächst; sie brechen vermehrt Schule und Ausbildung ab; Jugendkriminalität ist fast ausschließlich Jungenkriminalität; die Unruhe-„Krankheit“ ADHS ist Jungenmonopol. Immer mehr Buben wachsen vaterlos auf  und damit ohne männliches Vorbild, das sie sicher ins Leben führt.

Die Lage der erwachsenen Männer ist noch um einiges kläglicher. Beratungsstellen für Männer machen schon seit Jahren auf folgende Defizite aufmerksam: Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien, sie vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze,  sind zunehmend einem hohen Arbeitsstress ausgesetzt und scheitern vielfach daran, sie klagen über emotionale Probleme,  leiden zunehmend an Impotenz – in Deutschland 6 Millionen –  und neigen verstärkt zu Suchtproblemen, weil ihnen adäquate Bewältigungsstrategien nicht zur Verfügung stehen. Drei Viertel aller Suizidtoten sind Männer. Die  Zahlen schwanken seit 2006 zwischen 74,5 und 78%.  In der Adoleszenz sind gar 86% der Suizidtoten männlich; Kinderärzte schätzen diese Zahlen noch höher. Unlängst war in der „Basler Zeitung“ die folgende Todesanzeige zu lesen: „Nie hast du dich beklagt, nie gejammert, warst immer ausgeglichen und zufrieden, bist deinen Weg gegangen, und als du einmal Hilfe brauchtest, wolltest du niemanden belasten“.  Angekündigt war damit der Freitod eines vierzigjährigen Mannes.

Aktuelle Studien haben gezeigt, dass Männer genauso häufig an Depression leiden wie Frauen. Dennoch bleiben Stresssymptome gerade bei Männern lange unerkannt.  Männer werten Überbelastung als Herausforderung, der sie standhalten müssen und begeben sich deshalb auch seltener zum Arzt und noch seltener zum Therapeuten. „Das klaglose Ertragen von Härte und psychischem Druck ist ein Hauptmerkmal der klassischen Männerrolle. Nicht zuletzt deswegen ist es uns wichtig, dass sich die Psychosomatik auch den Männern und ihren Bedürfnissen zuwendet“, so Professor Matthias Franz, Initiant des Männerkongresses. „Wir brauchen dringend Therapieangebote und Präventionsmaßnahmen, die die spezifischen seelischen Bedürfnisse von Männern berücksichtigen“.

Eine öffentliche Problematisierung solcher Fakten ist bisher ausgeblieben. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie es im umgekehrten Falle wäre. Im Klartext: Wenn die männlichen Zahlen von Suizid-, Unfall- und Mordopfern auf Frauenseite zu Buche stünden, wäre der Aufschrei gewaltig.Als Antwort forderte der 3. Wissenschaftliche Männerkongress, dass sich Medizin und Politik endlich der Probleme von Männern und Buben anzunehmen hätten. Das verlangt allerdings auch, dass Männer selber eindringlicher für ihre Bedürfnisse einstehen.

Etwas unziemlich ließe sich  zum Schluss Heinrich Heine paraphrasieren: „Denk ich an die Lage der Männer in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“.

Kolumne Basler Zeitung vom 10. Oktober 2014